Aufgrund eines Beschlusses des Senats der Republik Polen wird der vielseitige Künstler, Schriftsteller, Grafiker, Maler und Literaturkritiker Bruno Schulz (1892-1942) zum Patron des Jahres 2022 ernannt. Diese Entscheidung steht im Zusammenhang mit den bevorstehenden Feierlichkeiten zum 130. Geburtstag des Künstlers und gleichzeitig zum 80. Jahrestag seines tragischen Todes im deutsch besetzten Drohobytsch.
Heute ist das Werk von Schulz weit über Israel, Polen oder die Ukraine hinaus bekannt, und seine Geschichten wurden in 45 Sprachen übersetzt, zuletzt ins Chinesische, Türkische, Estnische, Albanische, Griechische und Vietnamesische. Obwohl er nur zwei Sammlungen von Geschichten (Die Zimtläden und Das Sanatorium im Zeichen der Sanduhr) sowie eine Reihe von Essays und Rezensionen verfasst hat, wird ihr Wert trotz des geringen Umfangs seines Nachlasses sehr hoch eingeschätzt und erregt weltweit Bewunderung.
Bruno Schulz, ein Jude aus der polnischen Stadt Drohobytsch in der heutigen Ukraine, wurde als „Meister des polnischen Wortes” bezeichnet, wie auf der Gedenktafel an seinem Familienhaus zu lesen ist. Er stammte aus den Kreisen der jüdischen Intelligenz aus Lwiw, die im Kult der Österreichisch-Ungarischen Monarchie aufgewachsen war, sich aber gleichzeitig der polnischen Kultur anpasste und an den Aktivitäten des kulturellen Umfelds der Zweiten Polnischen Republik beteiligte.
Schulz war einer der besten Schüler des nach Franz Josef benannten C.K. Gymnasiums in Drohobytsch, das er 1910 mit Auszeichnung abgeschlossen hat. Er entschied sich für ein Architekturstudium an der Polytechnischen Universität Lwiw, doch während des Studiums erkrankte er schwer an Herz und Lunge und musste sein Studium abbrechen und endgültig nach Drohobytsch zurückkehren. Ab 1918 gehörte der Schriftsteller der lokalen jüdisch-polnischen Künstlergruppe „Kalleia” („Schöne Dinge”), die künstlerisch interessierte Intelligenzler versammelte, an. Er las viel, vor allem Belletristik und Bücher über Wissenschaft — Physik und Mathematik. Er war Autodidakt. Er fertigte auch Grafiken in der selten verwendeten Technik Cliché verre an.
Die meiste Zeit seines Lebens verbrachte er in seinem geliebten Drohobytsch, was er in seinen Geschichten, Zeichnungen und Gemälden festhielt. Er unternahm jedoch mehrere Reisen nach Deutschland, darunter eine nach Paris. Der Aufenthalt in der Hauptstadt der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und Besuche in europäischen Kunstmuseen führten zu einer hervorragenden Kenntnis der Werke großer alter Meister wie Albrecht Dürer, Tizian, Correggio, Claude Lorrain, Diego Velazquez oder Rembrandt. Die Inspiration durch die Werke barocker und klassischer Meister sowie von Künstlern des 19. Jahrhunderts wie Francisco Goya findet sich in Schulz‘ visuellen Werken ebenso wieder wie in seinen poetischen, schönen Beschreibungen von Innenräumen, der Natur und anderen Elementen der Welt, die er in seinen Geschichten beschreibt. Von seinem weiten Horizont zeugt auch die Tatsache, dass er Kontakte zu dem bekannten deutschen Schriftsteller Tomasz Mann und zu Vertretern der Avantgarde der polnischen Literatur unterhielt, darunter Freundschaften mit Witold Gombrowicz (1904-1969), Stanisław Ignacy Witkacy (1885-1939) und Zofia Nałkowska (1884-1954), aber er erlangte zu Lebzeiten keine große Anerkennung, was vor allem auf seine Schüchternheit und Verschlossenheit zurückzuführen war.
Was ist das Phänomen von Schulz‘ Werk? — Diese Frage haben sich schon viele gestellt. Wie Tomasz Wójcik, ein bedeutender Schulz-Forscher, feststellte, besteht ein „krasses Missverhältnis zwischen dem Umfang dieses Werks [seines Gesamtwerks — Anm. des Hrsg.] und seiner semantischen, ideologischen, weltanschaulichen und philosophischen Kapazität. Es verbirgt in sich einfach ein riesiges kognitives Potenzial, man könnte sich sogar wundern, dass es noch unerschöpflich ist”.
Charakteristisch ist auch die Sprache von Schulz‘ Prosa: ungewöhnlich reichhaltig, poetisch, voller Archaismen, als ob er die ursprüngliche Bedeutung der Wörter wiederentdecken würde. Die in seinen Erzählungen dargestellten Geschichten fügen sich in eine mythische Ordnung ein und haben universelle Merkmale. Obwohl er die meiste Zeit seines Lebens im provinziellen Drohobytsch verbrachte, machte Schulz seine unmittelbare Umgebung, seine Familie und seine Heimatstadt, zu einer Art Universum. Mit einer originellen Technik der Mythisierung der Realität erhob er diese kleine Welt, die er jeden Tag sah, zum Zentrum einer Welt, in der sich dank seiner außergewöhnlichen Vorstellungskraft außergewöhnliche, fantastische und bedeutsame Ereignisse abspielen sollten.
„Die Legende ist das Organ zur Erfassung von Größe, sie ist die Reaktion des menschlichen Geistes auf Größe. Wenn es um gewöhnliche Menschen und gewöhnliche Geschichte geht, reichen Psychologie, Pragmatismus und realistische Methoden der Geschichte aus. Mit diesem Schlüssel öffnen wir den Alltag, und viele glauben, dass er alles öffnet” — lesen wir im Schulz‘ Essay von 1935 zu Ehren des polnischen Marschalls Józef Piłsudski (1865-1935). Wie die Figur des Flaneurs aus Walter Benjamins Passagen durchquerte Schulz nicht nur die Wege seines provinziellen Schtetls, sondern die der gesamten europäischen Monumentalkultur. Er tat dies in seiner Vorstellung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, eines tragischen Jahrhunderts der Kriege und Revolutionen. Der Sohn eines jüdischen Textilkaufmanns, ein außerordentlich gelehrter Mann, fand in der Inspiration der alten Kultur und Kunst einen Ausweg aus dem eintönigen Alltag der Stadt und den finanziellen Schwierigkeiten der Familie nach dem Tod seines Vaters Jakub Schulz und seines Bruders Izydor Schulz. Mit seinem Werk schuf er eine Art kulturelle Festung, die nicht veraltet war, sondern eine immer lebendige, faszinierende Schatzkammer des individuellen und kollektiven Gedächtnisses, die sich nicht nur auf die jüdische, sondern auch auf die europäische Tradition und Kunst stützte.
Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unterbrach Schulz‘ kreative Interessen nicht. Zu dieser Zeit, etwa 1941, vollendete er wahrscheinlich seinen verschollenen Roman „Messias”. Als die Truppen des Dritten Reiches im Juli desselben Jahres erneut in Drohobytsch einmarschierten, begannen die deutschen Besatzer rasch mit der Unterdrückung und Verfolgung der Juden. Sie wurden zur Sklavenarbeit gezwungen, ihr Eigentum wurde beschlagnahmt und in den umliegenden Wäldern begannen Massenmorde. Es wurde ein Ghetto errichtet, in das Schulz‘ Familie geschickt wurde, und er selbst verlor seinen Arbeitsplatz in der Schule, weil die Schuleinrichtungen geschlossen wurden. Um zu überleben, fand er Arbeit beim Aufräumen der von den Deutschen geplünderten Büchersammlungen. Außerdem kam er als künstlerisch begabter Mensch unter die „Obhut” von Feliks Landau, einem Gestapo-Offizier, der persönlich an den Massenerschießungen von Juden teilgenommen hatte. Als Gegenleistung für den angeblichen Schutz des jüdischen Künstlers nutzte der Deutsche Schulz‘ künstlerische Talente, um die Wände des Kinderzimmers in seiner Villa mit märchenhaften Kompositionen zu schmücken oder das Innere des Gestapo-Kasinos zu dekorieren. Der Künstler war für Landau nützlich, aber er konnte sich nicht sicher fühlen. Überall wütete der Terror — Freunde und Bekannte des Schriftstellers wurden von den Deutschen getötet. Aus diesem Grund fürchtete Schulz um sein Leben und das seiner Angehörigen und dachte über eine Flucht aus dem Ghetto nach.
Seine jüdischen und polnischen Freunde versuchten, ihm zu helfen. Die polnische literarische Gemeinschaft, darunter die Schriftstellerin Zofia Nałkowska, organisierte für ihn falsche Papiere, mit denen er aus Drohobytsch fliehen und sich in Warschau verstecken konnte. Er sollte am 19. November 1942 nach Warschau reisen. Er hat es nicht geschafft. Er starb kurz vor seiner geplanten Abreise, erschossen von einem deutschen Offizier etwa 100 Meter von seinem Familienhaus am Marktplatz entfernt. Es wird vermutet, dass der Leichnam des Schriftstellers in einem Gemeinschaftsgrab beigesetzt wurde, das nach dem Krieg nicht mehr gefunden werden konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg, zu Sowjetzeiten, wurde an der Stelle des jüdischen Friedhofs eine Wohnsiedlung errichtet.
Das Werk von Bruno Schulz ist Ausdruck der außergewöhnlichen Multikulturalität Polens, wo unter anderem die jüdische Gemeinschaft eine wichtige und historische Rolle spielte und sich nicht nur von der jüdischen Tradition, sondern auch von der polnischen Kultur und dem europäischen Erbe inspirieren ließ. Die Erinnerung an Schulz und sein Werk wird gepflegt. Seit 2001 bewahrt das Yad Vashem Institut die meisten seiner Fresken auf, die sorgfältig aus den Wänden von Landaus Villa in Drohobytsch geschnitten wurden. Die Reste der Fresken wurden in das Museum von Drohobytsch gebracht. Es lohnt sich auch ein Ausflug nach Drohobytsch, wo seit 2004 alle zwei Jahre das Internationale Bruno-Schulz-Festival stattfindet (http://www.brunoschulzfestival.org). Obwohl 80 Jahre seit Schulz‘ Tod vergangen sind, hat Drohobytsch immer noch den einzigartigen Charme, die Atmosphäre und das Aussehen der alten Gebäude, Synagogen und Gärten aus Schulz‘ Zeit bewahrt, so dass die Liebhaber seiner Werke das Gefühl haben, in die Vorkriegswelt des Schriftstellers und Künstlers versetzt worden zu sein.