Forscher, die sich mit der Geschichte der polnisch-jüdischen Beziehungen in den polnischen Gebieten befassen, haben keinen Zweifel daran, dass Polen in der jüdischen Presse der Zweiten Republik sehr selten beschreiben wurden. Ihre Profile und Leistungen wurden nur sporadisch präsentiert. Marschall Piłsudski war eine Ausnahme. Wie stellten verschiedene jüdische Kreise diese für die Zwischenkriegszeit wichtigste Figur dar?
Eine Analyse der damaligen Presse lässt keinen Zweifel daran, dass die Vielfalt der politischen Strömungen unter den polnischen Juden das Bild des Marschalls beeinflusste, so dass kein einheitliches Bild von ihm entstand, obwohl er der polnische Politiker war, dem die jüdische Elite, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, die aufrichtigste Sympathie entgegenbrachte. Prof. Anna Landau-Czajka, eine Forscherin, die sich mit den polnisch-jüdischen Beziehungen beschäftigt, kam zu dem Schluss, dass es drei allgemeine Bilder von Piłsudski gab. Der Staatschef Polens erschien auf den Seiten verschiedener jüdischer Zeitschriften als Vorbildcharakter, als Schöpfer eines unabhängigen Polens und gleichzeitig als Verkörperung Polens. Er wurde auch als Verteidiger der polnischen Juden angesehen.
Der Marschall wurde als Mann von beispielhafter Tugend und Erbe aller großen Polen dargestellt. Der jüdische Historiker Aleksander Haftka (1892-1964) schrieb über ihn, er sei „ein genialer Held, der in seiner weltbewegenden Kraft alle erhabenen und edlen geistigen Eigenschaften seines Volkes vereint”. Er nannte ihn auch eine „charmante und bezaubernde Figur”.
Die Juden betonten vor allem Piłsudskis Beitrag zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit in den Jahren 1918-1921. Die populären jüdischen Zeitungen verglichen ihn mit Sobieski und sahen in ihm einen Verteidiger Europas, der es vor dem „bolschewistischen Ansturm” rettete. Das zweite Ereignis, neben der militärischen Tat an der Schwelle zur Unabhängigkeit Polens, für die ihm gedankt wurde, war der Maiputsch von 1926, der trotz vieler Kritiken von verschiedenen jüdischen Kreisen über viele Jahre hinweg durchweg positiv bewertet wurde. Die jüdische Elite betrachtete den Staatsstreich jedoch nicht als Sanierung, d. h. als moralische Erweckung, sondern vor allem als einen wichtigen historischen Moment, in dem den Nationalisten und Konservativen gewaltsam die Macht entzogen wurde.
Diese Bilder funktionierten nicht losgelöst von der politischen Realität. Jüdische Journalisten, für die der gleichzeitige Kampf für die volle Gleichberechtigung der Juden in Polen und die Beseitigung und Eindämmung des Antisemitismus zu einer Priorität wurde, beriefen sich besonders häufig auf diese Figur, wenn sie ihre Argumente zur Erreichung dieser Ziele darlegen wollten. Zu diesem Zweck wurde häufig die Figur des Marschalls als Verteidiger der Juden, als eine Art „Bollwerk” gegen die Herrschaft der Gegner Piłsudskis, in Erinnerung gerufen.