Auch die jüdische Bevölkerung schloss sich dem Kampf um die Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens an. Ein Beispiel für diese Haltung sind die patriotischen Demonstrationen in Warschau im Jahr 1861, bei denen einige Juden Seite an Seite mit Polen standen. Die zaristischen Behörden eröffneten Feuer auf sie.
Polen existierte seit 1795 nicht mehr auf Landkarten Europas: Preußen, Russland und Österreich waren daran schuld. Trotzdem überlebte der polnische Staat in den Herzen und Köpfen von Polen und Juden.
Die Zeit der Fremdherrschaft dauerte 123 Jahre (bis 1918). Angesichts des Verlusts der staatlichen Eigenständigkeit blieben die Menschen nicht untätig und weigerten sich, den mit Gewalt durchgesetzten Behörden zu gehorchen.
Es gibt viele Beispiele für den gemeinsamen polnisch-jüdischen Kampf, darunter patriotische Demonstrationen in den 1860er Jahren in Warschau. Sie waren der Auftakt zum bewaffneten Aufstand der Polen gegen die russische Besatzungsmacht — dem Januaraufstand.
Katholiken und Juden gemeinsam gegen Russland
Polnische patriotische Demonstrationen, die seit 1860 organisiert wurden, waren den russischen Behörden ein Dorn im Auge. Mit der Zeit reagierten die Russen immer brutaler auf sie — sie griffen zu den Waffen und schossen auf die Demonstranten.
Obwohl es in Warschau Winter war, waren die Tage heiß. Am 25. Februar 1861 fand in der Stadt eine große patriotische Demonstration zum Gedenken an die Schlacht bei Olszynka Grochowska — die blutigste während des gesamten Novemberaufstands (25. Februar 1831) — statt. Als die Russen die Menschenmenge, die sich zum Gedenken an diese Tage versammelt hatte, sahen, stürmten sie in die Menge und schlugen die Demonstranten mit ihren Säbeln. Einer der Kommandanten versuchte, einem polnischen Studenten eine Fahne zu entreißen, woraufhin der Student ihm einen Schlag ins Gesicht versetzte. Viele Menschen wurden festgenommen und in die Zitadelle gebracht, eine Festung, in der die russischen Behörden auch politische Gefangene festhielten.
Die Demonstrationen wurden zwei Tage später, am 27. Februar, fortgesetzt. Zu diesem Zeitpunkt beschlossen die Russen zum ersten Mal, Schusswaffen gegen die wehrlose Menge einzusetzen. Nach einer Salve aus russischen Gewehren wurden 5 Polen — Teilnehmer der Demonstration — getötet.
Ihr Begräbnis — die so genannte Beerdigung der Fünf Gefallenen — fand am 2. März statt und wurde zu einer weiteren patriotischen Demonstration. Sie wurde nicht nur von Katholiken, sondern auch von Evangelikalen und Juden besucht. Man rief damals zur Versöhnung zwischen Christen und Juden auf und warb dafür, sich gegen einen gemeinsamen Feind — das Russische Reich — zu wenden.
Sie schossen auf einen Juden, der ein Kreuz trug
Ein weiterer patriotischer Akt, an dem die Warschauer Bürger beteiligt waren, fand am 8. April statt. Obwohl die zaristischen Behörden ein Demonstrationsverbot erließen, gingen die Warschauer Bürger auf die Straße, um Ksawery Stobnicki zu begraben, der vom russischen Regime verfolgt und unter anderem nach Sibirien geschickt worden war. Im 19. Jahrhundert bezeichnete man damit eine erzwungene Reise tief in das russische Reich, um sich dort niederzulassen, ohne das Recht, den Wohnort zu wechseln. Die Beerdigung wurde wieder einmal zu einer patriotischen Demonstration.
Die Teilnehmer marschierten vom katholischen Friedhof zum jüdischen Friedhof. Am Grab von Antoni Eisenbaum — Direktor der Warschauer Rabbinerschule, der 1852 starb — kam es zur symbolische Verbrüderung zwischen Polen und Juden. Rabbi Izaak Kramsztyk hielt eine Rede, in der er zur Zusammenarbeit zwischen den beiden Nationen aufrief. Agaton Giller, ein Publizist und patriotischer Aktivist, schrieb, dass die Juden damals das polnische patriotische Lied „Boże coś Polskę…“ (dt. Gott, der Du Polen…) sangen. Die Menge brach vom jüdischen Friedhof auf und begann einen Marsch in Richtung Stadtzentrum. Dort sollte das Drama stattfinden.
An der Spitze der Menge marschierte Karol Nowakowski, ein aus dem zaristischen Gefängnis entlassener Student. Er trug ein Kreuz in seinen Händen. Die Russen haben befohlen, ihn lebendig festzunehmen. Währenddessen stürmten Kosaken im Dienste der Russen in die Menge und schlugen die Demonstranten. Als Nowakowski das Kreuz nicht mehr tragen konnte, hob es ein 17-jähriger Jude, Michał Landy, auf. Bald darauf wurde er von einer russischen Kugel getroffen. Mit ihm starben an diesem Tag mehrere hundert Menschen, einschließlich anderer Juden. Der Vater von Michał Landy, Henryk, begrub seinen Sohn am 10. April. Er wurde von einem Polizisten bewacht.
Entweihung von Kirchen, Verhaftung der Rabbiner
Die Polen im russischen Teilungsgebiet organisierten weiterhin patriotische Feiern. Am 10. Oktober fand eine große polnische Demonstration statt, an der auch Juden teilnahmen. Anlass war die Beerdigung von Bischof Antoni Fijałkowski. Der Zar reagierte darauf mit der Verhängung des Kriegsrechts. Dies hatte jedoch keine Wirkung.
Am 15. Oktober wurde der 44. Todestag von Tadeusz Kościuszko, der 1794 den polnischen Aufstand gegen das zaristische Russland anführte und für die amerikanische Unabhängigkeit kämpfte, gefeiert.
Die Polen beteten in den Kirchen für den polnisch-amerikanischen Helden. Russische Soldaten drangen jedoch in die Kirchen ein. Sie schlugen die Gläubigen und brachten sie aus den Tempeln ins Gefängnis. Der Klerus der katholischen Kirche betrachtete die Tempel als entweiht.
Als der jüdische Klerus davon erfuhr, beschloss er, eine Geste der Solidarität zu zeigen. Dov Ber Meisels, der Oberrabbiner von Warschau, ordnete die Schließung aller Synagogen in Warschau an. Die Russen rächten sich an den Juden und verhafteten Meisels und zwei weitere Rabbiner.
Die Atmosphäre in Warschau und in anderen Teilen der von den Russen eroberten polnischen Gebiete wurde immer angespannter. Die Erinnerung an die Hunderte von Ermordeten, die vielen Verwundeten, die Gefangenen und Märtyrer in der Zitadelle war lebendig. Der Höhepunkt stand kurz bevor: ein weiterer bewaffneter Aufstand der Polen gegen das Russische Reich — der Januaraufstand. Darin kämpften Juden an der Seite von Polen.