Jeder, der mindestens einmal mit den Gemälden oder literarischen Werken von Bruno Schulz, einem Künstler aus der Stadt Drohobycz (bis 1939 in Polen, heute in der Ukraine), in Berührung gekommen ist, wird feststellen, dass seine Heimatstadt eine große Rolle im Leben des Künstlers spielte. Er stellte sie in seinen Gemälden und Grafiken dar, aber beschrieb sie auch auf äußerst interessante Weise in seinen zwei Bänden mit Erzählungen Sklepy cynamonowe (dt. Die Zimtläden) und Sanatorium pod Klepsydrą (dt. Das Sanatorium zur Sanduhr).
In Wirklichkeit war Schulz‘ Heimatstadt ganz anders als das typische Schtetl. Vor dem Zweiten Weltkrieg war Drohobycz ein viel größeres, multikulturelles Zentrum, und der Schriftsteller selbst lehnte es ab, die Stadt und die Figuren in seinen Erzählungen einfach mit bestimmten Vorbildern aus dem wirklichen Leben zu identifizieren. Gelegentlich findet der aufmerksame Leser jedoch Orte in Schulz‘ Geschichten, die mit Anmut und Sinn für Topografie beschrieben wurden, denn obwohl der Name der Stadt nie auftaucht, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Schulz sich auf konkrete, reale Orte in seiner Heimatstadt Drohobycz bezieht, wie die Podwale- und die Liszniańska-Straße oder das Haus der Familie des Schriftstellers, das sich tatsächlich auf dem Marktplatz befindet, und die Apotheke in der Stryiska-Straße, die noch heute funktioniert.
Auch in den meisten Zeichnungen von Schulz, wie in der Grafikserie Xięga bałwochwalcza (dt. Das Götzenbuch), bilden Elemente der realen Welt den Hintergrund für die Handlungen seiner Figuren (u. a. der charakteristische Turm des Rathauses von Drohobycz, die Fronten der örtlichen Kirchen und die Mietshäuser in der Nähe des Marktplatzes). Im Gegensatz zur grundsätzlichen Unveränderlichkeit der Stadt in Schulz‘ Erzählungen findet jedoch ein ständiger Transformationsprozess innerhalb konkreter Objekte statt. Die Mietshäuser (wie in der Erzählung Wichura, dt. Der Sturm) verhalten sich wie lebende Organismen, genau wie die Phänomene der Natur, die Jahres- und Tageszeiten. Die Raumkonstruktion in den Erzählungen von Bruno Schulz ist eine Art „Maske”, die jederzeit durch eine andere ersetzt werden kann. In dieser Neugestaltung des Stadtraums offenbart sich die künstlerische Idee, seine Heimatstadt — Drohobycz — mit Hilfe der Vorstellungskraft während der Wanderung zu gestalten. In der von Schulz kreierten geheimnisvollen Welt lädt der Autor den Leser dazu ein, in den Winternächten „seinen Weg abzukürzen”. Die winterliche Stimmung — so argumentiert der Künstler in der Erzählung Die Zimtläden — ermöglicht es dem Wanderhelden, die Topografie der Stadt, die sich als vertrauter, aber für Experimente offener Ort erweist, mitzugestalten: „Die Straßen vervielfältigen sich im nächtlichen Zwielicht, sie geraten durcheinander und vertauschen sich miteinander. Im Inneren der Stadt tun sich gewissermaßen Zweifachstraßen auf, Doppelgängerstraßen, Lug- und Trugstraßen. Die bezauberte und irregeführte Phantasie erzeugt illusorische, vermeintlich längst und wohl bekannte Stadtpläne, auf denen diese Straßen zwar ihren Platz und ihren Namen haben, doch die Nacht in ihrer unerschöpflichen Produktivität hat nichts Besseres zu tun, als fortwährend neue und imaginierte Konfigurationen zu liefern“.
Wohin führen diese Doppelgängerstraßen? Nur mutige Leser, die zu den Kurzgeschichten von Bruno Schulz greifen, werden es herausfinden. Die wahren Wege des Schriftstellers sind jedoch vor allem in seiner Heimatstadt Drohobycz zu finden.