Am 11. Oktober 1910 wurde Lemberg zum Schauplatz eines einzigartigen Ereignisses. An diesem Tag fand in den monumentalen Mauern der Bernhardinerkirche die Beerdigung von Maria Konopnicka — polnischer Dichterin, Schriftstellerin und Unabhängigkeitsaktivistin — statt. Die Zeremonie entwickelte sich zu einer patriotischen Manifestation, an der rund 50 Tausend Menschen teilnahmen.
Maria Konopnicka starb am 8. Oktober 1910 an einer Lungenentzündung in Lemberg. Diese Stadt wurde nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens im Jahr 1918 Teil des polnischen Staates.
Die Beerdigungszeremonie selbst begann am Nachmittag. Eine große Menschenmenge versammelten sich nicht nur in der Kirche, sondern auch auf dem angrenzenden Bernhardinerplatz, der von den Trauernden regelrecht überschwemmt wurde. Man schätzte, dass er bis auf den letzten Platz gefüllt war, wie ein Reporter des Tageszeitung „Kurjer Lwowski” ausführlich berichtete. Das Innere der Kirche glich einem bunten Mosaik aus Blumen, Kränzen und Schleifen. Nach der Zeremonie wurde der Sarg von Konopnicka auf den Schultern von vier Männern hinausgetragen. Das weiße Leichentuch, das an ihm hing, zog die Blicke aller Anwesenden auf sich.
Der Vizepräsident von Lemberg, Tadeusz Rutowski, hielt eine bewegende Rede. Er bezeichnete Konopnicka als „die Sängerin des traurigsten Schicksals der Nation” und hob ihre literarischen Fähigkeiten und ihr großes soziales und patriotisches Engagement hervor.
Nach der Ansprache wurde der Sarg feierlich zum Lytschakiwski-Friedhof getragen. Der Trauerzug war so groß, dass die letzten Teilnehmer die Kirche erst anderthalb Stunden nach dem Aufbruch verließen. Unter den Anwesenden befanden sich nicht nur Polen, sondern auch Ukrainer, was den universellen und transnationalen Charakter von Konopnickas Werk unterstreicht.
Auf dem Lytschakiwski-Friedhof wurde der Sarg in einem provisorischen Grab beigesetzt. Anschließend begannen weitere Reden, die fast eineinhalb Stunden dauerten. Neun Personen ergriffen das Wort, darunter der Dichter Jan Kasprowicz und Vertreter des Wiener Parlaments (Lemberg war damals Teil Österreich-Ungarns). Nach dem Anzünden von Fackeln und dem Singen mehrerer Lieder, darunter „Boże coś Polskę” (dt. Gott, der Du Polen…) , verließen die Trauernden den Friedhof.
Für diejenigen, die das Begräbnis von Konopnicka miterlebten, blieb es ein Symbol für eine Gesellschaft, die im Schmerz, aber auch im Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit vereint war.